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Manchmal ist das Leben zum Kotzen
Ich verbringe den Montagmorgen mit einem emotional gestörten Molkereiarbeiter und einem Klempnerlehrling mit Legasthenie. Das scheint eine angemessene Strafe für eine Frau, die ihren Mann so verzweifelt zurückzugewinnen versucht, dass sie dazu sogar einen Stringtanga und einen Fernsehapparat einsetzt. Nach dem Mittagessen bin ich dann im SaveWay, wo ich Milton beibringe, wie man den Parkplatz mit einem großen, breiten Holzbesen fegt. Er schiebt Papierbecher und Plastikfolien zum Bordstein und zu den Verkehrsinseln und wirft dann alles in die Mülltonnen. Ich zeige Milton, wie man die Deckel von den Tonnen nimmt, die schweren vollen Säcke herauszieht und einen neuen Plastiksack einlegt. Dicke schwarze Wolken ziehen über uns auf, während ich mit ihm übe. »Lass uns schnell machen und noch diese Tonne hier leeren«, sage ich zu Milton.
»Ja!«, ruft er und steht hinter mir wie ein Schatten. Er beugt sich über mich, als ich mich über den Mülleimer beuge. Ich kann seinen Atem auf meinem Haar spüren.
»Meine Mutter sagt, dass Sex etwas Heiliges ist«, flüstert Milton hinter meinem Kopf. Alles, was ich rieche, ist das Plastik.
Ich ziehe den Kopf aus dem Müllsack und richte mich auf, um in sein angespanntes Gesicht zu blicken. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was eine passende Antwort sein könnte.
Milton trägt den Besen über der Schulter wie ein Gewehr, während wir weiter zur nächsten Mülltonne gehen. Ich wiege die Rolle Müllsäcke im Arm wie ein Baby. Dann fällt mir eine Erwiderung ein. »Milton.« Ich suche seinen Blick. »Ich hoffe doch, dass du nicht mit anderen Kunden im SaveWay über Sex sprichst.«
Ich sehe zu, wie seine Augen rund und weich werden: wie süße Milchschokolade. »O nein, nein, nein«, sagt er. »Nur mit Ihnen.«
Es blitzt, dann folgt Donner. Milton scheint es nicht zu bemerken. Er denkt über Sex nach, während wir zum Geschäft eilen. Seine Mutter sagt, Sex sei etwas Heiliges. Sag das mal Teddy, denke ich. Wieder sehe ich verstohlen zu Milton, und er lächelt mich selig an. Auf seinen schön geschwungenen Wangen glänzen Regentropfen. Bis wir drinnen sind, schüttet es.
Ich stehe vor Mickey Hamiltons Tür neben dem Käseregal, und mein Haar ist tropfnass. Ich warte darauf, dass Milton seinen Besen wegbringt. Ich will nicht, dass Ham mich so zu Gesicht bekommt, in Jeans statt Rock, den Kopf frisch aus der Mülltonne. Was, wenn er wieder fragt, ob ich mit ihm ausgehe? Es ist einfacher, jemandem abzusagen, wenn man businessmäßig gekleidet ist. Allein deshalb sind Präsidenten und Priester so lange mit allem durchgekommen.
Die für Vernarrtheit zuständige Region in Miltons Hirn ist überaktiv. Das Gespräch mit seiner Mutter beim letzten Elternabend hat anscheinend alles nur noch schlimmer gemacht. Dabei habe ich genug Probleme mit meinem eigenen Liebesleben. Ich koche noch immer vor Wut bei dem Gedanken daran, dass mein Mann sich Vorwürfe macht, weil er mit seiner eigenen Frau geschlafen hat. Ist ein neues Gesetz zum Schutz von Geliebten im Kongress abgesegnet worden, ohne dass ich es mitbekommen habe? Gereizt fahre ich mir mit der feuchten Faust über die Haare und warte ungeduldig darauf, dass Mickey Hamilton aus seinem Büro kommt, damit wir Miltons Trainingseinheit beenden können. Die Tür geht auf, doch an seiner statt kommt Milton heraus. Er trägt seinen grünen SaveWay-Regenumhang und ist dabei, zu seinen Pflichten als Einkaufswagen-Einsammler zurückzukehren. Seine Augen liegen im Schatten der großen Kapuze, doch ich erkenne trotzdem, dass er mich anstarrt – als hätte er bei den Milchprodukten Miss Amerika entdeckt.
»Oh, Miss Plow!«, ruft er plötzlich viel zu laut. Eine Frau lässt den Käse, den sie gerade in der Hand hält, fallen und starrt zu uns herüber.
»Milton«, flüstere ich, »denk an unsere Stimme für drinnen.«
»Aber Miss Plow! Ich muss mit Ihnen reden!«
»Ja, schon, aber das kann man auch mit der Stimme für drinnen …«
»Aber Miss Plow, ich liebe Sie doch«, sagt Milton und unterbricht damit jegliche Aktivität in Reihe sechs: Wagen-schieben, Sahnekaufen, sogar die Musik setzt zwischen zwei seichten Liedern kurz aus. »Was soll ich denn tun, wo ich Sie doch liebe?«, fragt Milton. Er breitet die Arme weit aus, als er auf mich zugesegelt kommt. Sein Regencape wölbt sich wie Adlerschwingen. Er will mich wirklich umarmen.
Ich könnte eine Umarmung brauchen, aber nicht von Milton, und nicht vor dem Käseregal. Die Frau mit dem Käse lächelt, aber es ist ein verängstigtes Lächeln, denn dieses Lächeln bedeutet, Herrje, seht euch nur den behinderten Jungen an, wie er sich benimmt. Am liebsten würde ich ihr dafür eine runterhauen. Ich werde nie verstehen, warum Menschen mit geistiger Behinderung die meisten Menschen so erschrecken. Man könnte alle Miltons dieser Welt der Polizei und dem Grenzschutz zuteilen und unsere Grenzen allein mit ihren Liebesbezeugungen und ihrem guten Willen schützen. Solche Angst haben die Leute. Vorsichtig befreie ich mich aus Miltons Umarmung und führe ihn dann am Ellbogen Richtung Ausgang.
»Es freut mich«, erkläre ich ihm im Gehen ganz ruhig, »dass du mich liebst, Milton …«
»Wirklich?« Sein Gesicht fährt in der Kapuze zu mir herum,
und er sieht mich mit großen Augen an.
»Natürlich, ja. Aber, Milton …«
Er drückt meine Hand. »Weil, wenn Sie mich auch lieben, Miss Plow, hab ich gedacht, dann könnten wir ja heiraten.«
Unglücklich blicke ich in sein schönes Gesicht.
»Wir könnten ein großes Fest machen«, sagt er. »Wir könnten tanzen, und Sie könnten ein weißes Kleid anziehen und ich …«
»Milton!« Jetzt erhebe ich die Stimme und sehe bewusst in sein hübsches Gesicht. »Wir sind hier an deinem Arbeitsplatz, erinnerst du dich?«
Milton senkt den Blick.
»Weißt du noch, wie ich dir das mit dem Arbeitsleben und dem Privatleben erklärt habe und dass wir dazwischen unterscheiden?« Jetzt wird meine Stimme weicher. »Wir beide haben eine geschäftliche Beziehung.«
Milton wendet sich ab. »Jaa«, seufzt er, ohne mich anzusehen.
»Gut«, sage ich. Dann füge ich hinzu: »Du machst deine Arbeit wunderbar, Milton.«
Er antwortet nicht. Ich sehe ihm nach, als er mit hängenden Schultern hinaus in den Regen tritt, als würde er eine schwere Last tragen. Supermarktkunden gehen vorbei. Er blickt nicht auf.
Mr Hamilton taucht aus dem Nichts auf und stellt sich neben mich. Er hat seine Sportjacke über die Schulter geworfen und sie an einem gekrümmten Finger eingehakt. Und er trägt noch immer diese Siebziger-Jahre-Koteletten und dieses nichtssagende, alte Gesicht.
»Harter Tag?«, fragt er, als wir zusammen zu seinem Büro gehen.
»Nein, nein«, lüge ich, weil ich keine Lust habe zu erklären, dass für meine Schützlinge jeder Tag ein harter Tag ist. Schweigend betreten wir Mickeys höhlenartiges Büro und lassen uns auf unseren üblichen Plätzen an dem verkratzten Holztisch nieder. Er lockert seine Krawatte, greift hinter sich und holt eine Schachtel mit Doughnuts aus dem Regal.
»Darf ich Ihnen einen anbieten?«, fragt er, und ich schüttele verneinend den Kopf, weil ich natürlich eine Anspielung vermute. Nach dem Motto: Bieten wir der Dicken mal einen Doughnut an. Andererseits könnte das Hams Art sein, zu sagen, dass er meine starken Knochen in Ordnung findet. Oder er hat einfach nur versucht, mir einen Doughnut anzubieten.
»Sie sehen mitgenommen aus«, sagt er.
»Mir geht es gut, Mr Hamilton«, entgegne ich. Ich schlage den Aktenordner mit Miltons Unterlagen auf und tue so, als würde ich darin lesen.
»Darf ich Sie etwas fragen?«, sagt er, und mein Blick wandert sofort zur Tür. »Warum wollen Sie mich eigentlich nicht Ham nennen?«
Ich antworte nicht gleich, weil die Antwort so offensichtlich scheint. Sich »Ham« – Schinken! – zu nennen, weil man früher mal als Metzger gearbeitet hat, kommt mir ein bisschen arschgesichtig vor, wie Marcie es vielleicht nennen würde. Das ist so, als wäre man das Kind in der Schule, dem die anderen ein Schild mit der Aufschrift SCHLAG MICH auf den Rücken gepappt haben. Aber wie soll man das einem Mann erklären, der stets so freundlich ist?
Ich sehe auf die Tischplatte hinunter, auf der Mickey seine großen, verschränkten Hände in Erwartung einer Antwort abgelegt hat. Ich räuspere mich, verärgert darüber, dass wir diese Diskussion führen müssen, die so gar nichts mit Miltons Fortschritten zu tun hat. Mickey erhebt sich von seinem Stuhl und stellt die Schachtel mit den Doughnuts zurück ins Regal, wobei sein sehr ansehnlicher Hintern sichtbar wird.
Er dreht sich um und sieht mich, immer noch wartend, an.
»Dieser Spitzname ist eine Anspielung auf die Fleischtheke«, sage ich schließlich.
Er lässt sich wieder mir gegenüber nieder. »Ich finde eher, dieser Spitzname ist eine Anspielung auf das, was früher mein Beruf war.«
Bitte, denke ich.
Mickey blickt mich unverwandt aus seinen grauen Augen an. Langweiligen Augen. Augen, die so grau sind wie die Wände meiner Mutter beige. Ein netter Hintern ist nicht alles. Wieder mustere ich seine großen Hände auf der Tischplatte und versuche, mir vorzustellen, wie er damit ein Fleischerbeil schwingt. Das hilft.
»Es ist ja nichts Neues«, sagt er, »dass Leute nach ihrem Beruf benannt werden. Ich meine, denken Sie nur mal an all die Fishers und Goldsmiths auf dieser Erde.«
Und Plows, denke ich, sage es aber natürlich nicht laut. »Das ist etwas anderes«, sage ich stattdessen.
»Nicht wirklich«, beharrt er. »Es ist das Gleiche. Ich habe als Metzger gearbeitet, und ich habe meine Arbeit gut gemacht. Ergo: Ham.«
Ergo? Wer verwendet denn ein Wort wie »ergo«? Es ist an der Zeit, das Ganze zu beenden, denke ich.
»Also gut«, sage ich. »Mein Fehler, einverstanden? Ich bin sicher, dass Sie Ihre Arbeit hinter der Fleischtheke gut gemacht haben …«
»Aber Sie sind nicht sicher, ob mein Name so vornehm wie Ihrer ist. Sind Sie Vegetarierin?«
»Nein.«
»Essen Sie Fleisch?«
»Jetzt machen Sie mal langsam«, protestiere ich.
»Ich bin genauso stolz auf meine ordentlich zerteilten Rinderhälften«, seufzt er, »wie Sie auf Milton, der die Tüten in die Mülleimer hängt.«
»Das reicht!« Entrüstet springe ich auf.
»Trotz Ihrer Versnobtheit«, fährt er gelassen fort, »stehe ich immer noch zu meiner Essenseinladung.«
»Tja, tut mir leid«, sage ich. »Aber heute hat mir bereits jemand ein Angebot gemacht.«
»Das habe ich gehört.« – »Und eigentlich bin ich auch nicht zu haben. Ich bin … halb verheiratet.«
»Auch davon habe ich gehört«, sagt er und steht nun selbst vom Tisch auf. »Aber eines sollten Sie über mich wissen«, sagt er und streift ganz, ganz vorsichtig meine Hand. »Ich bin ein sehr geduldiger Mensch.«
Ich renne wie von der Tarantel gestochen aus seinem Büro. Ich beschließe, ihm Miltons Trainingsprotokoll zu mailen, damit ich sofort nach Hause kann. Ich sehne mich nach meinem Bett. Ich will dorthin, obwohl es groß genug für eine ganze Tennismannschaft ist und ich nur eine Person mit einer Steppdecke bin. Ich möchte unter dieser Steppdecke liegen, wo mir niemand einen Antrag macht, mich zum Essen oder Fernsehen einlädt oder vielleicht die Scheidung einreicht.
Ich stürme über den dampfenden Parkplatz, und Miltons Schlange aus Einkaufswagen klappert laut hinter mir. Ich drehe mich nicht zu ihm um. Ich feuere meine Tasche auf den Beifahrersitz und springe ins Auto. Milton steht neben der Windschutzscheibe, als ich den Motor anlasse. Ich lasse das Fenster runter, und er steckt das nasse Gesicht herein. Der Regen tropft von seiner Kapuze ins Wageninnere.
»Alles okay mit dir?«, frage ich, doch er starrt mich nur an, und seine Mundwinkel zittern.
»Oh Miss Plow«, sagt er schließlich, »manchmal ist das Leben zum Kotzen.«
Ich sollte ihn daran erinnern, dass Kotzen eines der Wörter ist, die wir nicht am Arbeitsplatz verwenden. Doch stattdessen strecke ich die Hand aus und tätschele seine feuchte Wange.
»Da hast du recht, Milton«, sage ich zu ihm. »Da hast du wirklich recht.«
Langsam fahre ich davon und krieche an den für Long Island typischen Supermarktkunden vorbei – Hausfrauen mit toupiertem Haar, rundlichen alten Damen, »Gutsituierten« mit gestylter Frisur, die mit großen Klunkern behangen sind – alle beladen sie ihre Autos mit Plastiktüten, braunen Papiertüten und bergeweise Klopapier in Cellophan. Vielleicht werde ich mit der Zeit auch eine von diesen rundlichen alten Damen, eine weitere dieser grobknochigen alten Frauen wie Teddys Mutter, Mrs Stracuzza, mit ihrem italienischen Queens-Akzent, ihren Pastarezepten, ihren geschwollenen Knöcheln und dem katholischen Aberglauben. Als Frau eines Malers hat sie nie verstanden, warum Teddy so anders als seine Eltern sein wollte. Sein Faible für edle Weine und teure Designeranzüge hat sie in gewisser Weise enttäuscht. Manchmal komme ich mir vor, als wäre ich der Trostpreis, den Teddy nach Hause geschleppt hat, um sie zu beruhigen – ein rundliches Long-Island-Girl mit Eltern aus der Arbeiterklasse und, wenn schon keinem italienischen Nachnamen, dann doch wenigstens einem, der nach Long Island klingt.
Bis ich zu Hause bin, scheint die Sonne wieder. Ich sehe meine Mutter auf dem Besucherparkplatz stehen, sie hat sich mit gekreuzten Armen und Beinen an ihr Auto gelehnt. In dem langen Jerseykleid und dem kurzen, geblümten Jäckchen sieht sie aus wie die Mutter aus den Dick-und-Jane-Kinderbüchern.
»Hello, Dolly«, sagt sie und mustert mich durch ihre Sonnenbrille mit dem gesprenkelten Gestell. »Ich bin hier, um mir meine Tortenplatte zu holen, falls du sie nicht mehr brauchst.«
»Den Kuchen hast du gestern vor meiner Tür abgestellt, Ma. Glaubst du wirklich, ich esse so eine Kalorienbombe in nur vierundzwanzig Stunden?«
Sie schiebt die Sonnenbrille in die Stirn. Ich sehe, wie ihr Blick zu meinen Hüften wandert.
»Lass gut sein, Ma. Der Tag war lang.«
»Warst du arbeiten?«
»Ja.«
»In diesem Aufzug?« – »Ja«, sage ich. »In diesem Aufzug. Was dagegen?«
Ich drehe ihr den Rücken zu und gehe in Richtung Fahrstuhl. Sie schweigt wie ein Geist und heftet sich an meine Fersen. Sie weiß, dass sie mich verletzt hat. Als der Fahrstuhl klingelt, schlüpft sie neben mir hinein. Ich blicke in den Wandspiegel, und da sind wir: eine kleine Frau in einem Kostüm und eine große Frau mit Jeans. Eine Erdnuss und ein Kürbis, Seite an Seite. Meine Augen sind ungeschminkt und gerötet. Der Lippenstift meiner Mutter leuchtet rot.
Ich schließe die Tür auf und sehe zu, wie meine Mutter vor mir eintritt. Prüfend wandert ihr Blick nach links und rechts, ob auch alles ordentlich, staub- und ehemännerfrei ist. Erleichtert fällt mir ein, dass ich daran gedacht habe, die roten Dessous wieder zurück in die Schublade zu stopfen. Meine Mutter lässt sich steif in Teetrinkerpose auf dem Sofa nieder. Es wäre nett, wenn sie ihre Kuchenplatte nehmen und verschwinden würde. Aber natürlich ist sie nicht wegen der Servierplatte hier.
Ich rausche an ihr vorbei in die Küche und reiße die unangeschnittene Torte von der Arbeitsplatte.
»Hier. Warum nimmst du das nicht wieder mit?« Ich halte sie ihr demonstrativ vor das erschrockene Gesicht.
»Aber da ist ja noch die ganze, unberührte Torte drauf!«
»Davon werde ich nur noch fetter.«
»Das ist dein Lieblingsrezept! Das aus dem Kirchenkochbuch! Glaubst du etwa, ich habe die Torte für mich gemacht?«
»Woher soll ich wissen, für wen du sie gemacht hast? Hast du nicht gerade meine Hüften angestarrt? Vollschlanke Mädels brauchen keinen Kuchen, Mom. Schon vergessen?«
Meine Mutter schlägt die Beine übereinander und fegt ein nicht vorhandenes Staubkörnchen vom oberen Knie. Ihr Mund bildet eine schmale Linie. Schwer, schwer eingeschnappt.
»Rosie, du bist …« – »… pummelig, Mom. Ich bin pummelig, okay?«
»Nein! Du bist gehässig.«
»Ich bin nicht gerade perfekt, Ma. Einigen wir uns einfach darauf. Mein Outfit ist zum Kotzen. Mein Mann hat mich verlassen. Meinst du, du kannst damit leben, Ma?«
Sie blickt auf ihre Hände. Anscheinend kann ich nicht aufhören.
»Was du da sagst, Ma, verletzt anderer Leute Gefühle, ob du es glaubst oder nicht …«
Ihr Kopf fährt hoch. »Du bist doch nicht irgendjemand. Du bist meine Tochter. Ich dachte, ich könnte ganz offen zu dir sein.«
Ich verwerfe ihre Aussage mit einem verächtlichen Schnauben. So etwas werde ich meiner Tochter gegenüber nie äußern, sollte ich jemals eine haben. Ich gehe an dem ungenutzten Raum, der einmal das Kinderzimmer hätte werden sollen, vorbei ins Schlafzimmer. Meine Hände ballen sich so fest, dass die Nägel sich in das weiche Fleisch der Handfläche graben. Inga. Dieser Betrug! Mein Herz schmerzt wie ein aufgeschürftes Knie. Ich bin ein bisschen kurzatmig und spüre die Wunde, als wäre sie ganz frisch. Ich weiß, dass meine Mutter nicht allein schuld daran sein kann. Ich weiß, dass sie nur eine kleine Frau in großer Aufmachung ist. Aber trotzdem.
»Ich bin ein bisschen müde, Ma«, rufe ich. »Ich lege mich jetzt hin.«
»Dein Vater hat Blut im Urin«, murmelt sie hinter mir. Ich drehe mich um und sehe sie an.
»Ich mache mir ein bisschen Sorgen, dass er sterben könnte«, sagt sie. Dann nimmt sie ihre Torte und geht.
Statt mich hinzulegen, fahre ich zu Ingas Haus. Ich treffe sie im Garten an, wo sie sorgfältig ihre üppigen Tomatenpflanzen an Metallgittern hochbindet. Sie steht mit dem gebeugten Rücken zu mir. Sie ist größer und vielleicht ein bisschen drahtiger als meine Mutter, aber trotzdem der gleiche Typ. Gewinnend. Gertenschlank. So verdammt dünn. Mir schießt die Frage durch den Kopf, ob mein Vater sich vor dreißig Jahren auch zu Inga hingezogen gefühlt hätte. Vielleicht fühlen sich alle Männer zu den gleichen Frauen hingezogen, und der Rest von uns läuft einfach nur mit dem falschen Aussehen herum und wartet auf den Ausschuss, auf die Männer, die uns trotzdem nehmen.
Teddys Auto ist nicht hier. So kam es, dass ich mich zur Rückseite von Ingas Cape-Haus vorgewagt habe, über den Pflasterweg, der sich am Rand des Grundstücks hinunterschlängelt, vorbei an sorgfältig arrangierten Sträuchern, die ihn flankieren.
Ich hatte so eine Ahnung, dass ich sie hier finden würde. Sie wohnt mehr oder weniger in ihrem Garten. Ich warte darauf, dass sie sich umdreht und mich ansieht, und frage mich, was sie wohl sagen wird, wie sie ihrer ältesten, besten Freundin diesen ganzen Männer-Kuddelmuddel erklären wird. Doch als sie sich dann umdreht und ein roter Gartenhandschuh langsam zu ihrem offenen Mund wandert, bin ich es, die spricht.
»Mein Vater hat Blut im Urin«, sage ich. »Vielleicht hat er Prostatakrebs.«
»O nein«, sagt Inga sanft. Sie hat meinen Vater hundert Mal getroffen. Sie hat ihm ordentlich die Hand geschüttelt und ihn Mr Pulkowski und nicht Mr Plow genannt. Sie hat es ihm gestattet, sie auf seine stille Art zu lieben. Ich hoffe, dass diese Neuigkeit sie schmerzt oder zumindest aus dem Konzept bringt. Aber vielleicht hoffe ich auch, immer noch mit einem Problem zu meiner besten Freundin gehen zu können, wie früher.
Jetzt sind wir beide verwirrt. Schweigend stehen wir in Ingas Garten. Kleine gelbe Haarbüschel rahmen ihre Stirn und ihren langen Hals. Ich streiche mein eigenes Haar zurück und spüre, wie spröde es ist. »Inga«, sage ich. »Wie konntest du mir das antun?«
Sie beißt sich auf die Unterlippe. Sie geht in die Knie und hebt ihre Pflanzkelle auf.
»Wie kannst du nur ernsthaft zusammen mit ihm ein Haus kaufen?«
Sorgfältig wischt sie die Kelle mit einer behandschuhten Hand ab. »Ich muss jetzt gehen«, sagt sie, dreht sich um und geht weg.
Die Fliegengittertür schlägt gegen den Türrahmen, und ich stehe zwischen den Tomaten und den Ringelblumen, allein. Ich folge ihr zur Tür und stehe da, drücke mir die Nase am Fliegengitter platt und schirme mit den Händen meine Augen ab. Ich luge in ihre Küche, auf die geschwungene Gardine über dem Spülbecken, auf eine angebrochene Weinflasche mit Korken auf der Arbeitsfläche. Sie selbst ist nicht dort. Sie ist in irgendeinem anderen Zimmer. Ich sehe jedes einzelne vor mir, die Farbe jeder Wand, jede Lampe, jedes Handtuch. Ich starre in den Raum, in dem Inga und ich vor dem offenen Gefrierschrank gestanden und Häagen-Dazs aus der Packung gelöffelt haben, wo wir Kekse gebacken und über unser Sexualleben gesprochen haben, wo wir zahllose andere Weinflaschen entkorkt haben. Jetzt ist das Teddys Küche geworden – zumindest, bis die beiden in ein Haus mit einer anderen Küche ziehen.
Nach all diesen Jahren scheine ich nicht einfach hineingehen zu können. »Inga?«, rufe ich leise durch die Maschen des Fliegengitters. »Wie konntest du das tun?« Es ist leichter, mit ihr zu reden, wenn sie nicht da ist. »Wie konntest du mir den Mann wegnehmen? Ich habe dir geholfen, diese Gardine da aufzuhängen. Ich habe dir geholfen, sie auszusuchen.«
Es ist, als wäre sie nicht da. »Warum hast du das getan?«, frage ich erneut, doch dieses Mal schreie ich anscheinend. »Inga! Warum? Inga! Antworte mir!«
Nichts.
»Ich bin’s, Rosie«, erinnere ich sie. »Deine beste Freundin. Findest du nicht, dass du mir eine Antwort schuldig bist?«
Wieder nichts. Dann doch etwas. Die Eingangstür geht auf und zu. Eine Minute später höre ich, wie eine Autotür zuknallt, wie der Motor anspringt und wie sein Brummen leiser und leiser wird. Inga ist fort. Ich habe sie aus ihrem eigenen Haus verjagt. Immerhin etwas.
Ich löse mein Gesicht von dem Gitter. Eine Frau im Garten neben Ingas steht auf einer Leiter vor ihrem erhöhten Pool und tut so, als würde sie mit einem Netz die Käfer herausfischen, obwohl sie in Wahrheit einfach nur mich beobachtet. Sie lächelt mich mit ihren unvorteilhaften Shorts an, und die Cellulitis an ihren Beinen glänzt. »Ich glaube, sie ist weg«, sagt sie.